Um die Frage zu beantworten, versucht Peter Riedl herauszufinden, was Meditation ist und was sie nicht ist, was man im Westen und im Osten darunter versteht und was Buddha, Krishnamurti und andere dazu sagen. Unter dem Begriff Meditation wird ganz Unterschiedliches verstanden.
Das ist darauf zurückzuführen, dass fast alle Meditationsformen, die derzeit geübt werden, ihren Ursprung in Asien haben, der Begriff selbst jedoch ein abendländischer ist. Er leitet sich von dem lateinischen Wort ‚meditari’ her, was ‚nachdenken’ oder ‚nachsinnen’ bedeutet. So bezeichnete Descartes, der berühmte französische Philosoph des 16. Jhs., seine philosophischen Abhandlungen über die ‚Grundlagen der Philosophie’ ebenfalls als Meditationen. Wenn katholische Priester jemanden dazu anregen wollen, über ein Thema nachzudenken, sagen sie häufig: „Man möge darüber meditieren.” In den östlichen Traditionen ist das anders. Da wird in der Meditation zwar auch nachgedacht oder kontempliert, aber ihr eigentliches Ziel ist ein gedankenfreier Zustand. So kommt im ‚Buddhistischen Wörterbuch’ von Nyanatiloka das Wort ‚Meditation’ erst gar nicht vor. Nyanatiloka, 1878-1957, lebte in Sri Lanka, er war Deutscher und ein bedeutender Mönch und Übersetzer. Die Begriffe, die wir mit ‚Meditation’ übersetzen, lauten in Sanskrit, der heiligen Sprache der Inder, ‚samadhi’ und ‚dhyana’. Ersteres ist die ‚Sammlung’, Letzteres die ‚Vertiefung’ des Geistes.
Das zeigt die Schwierigkeiten, den Begriff ‚Meditation’ mit westlichen Worten zu beschreiben. ‚Sammlung’ und ‚Vertiefung’ des Geistes sind bei uns keine gelernten Begriffe, unter ‚Nachsinnen’ und ‚Denken’ können wir uns da schon mehr vorstellen. Wozu dient Meditation? Auch diese Frage lässt sich nicht einfach beantworten. Sie kann zur Entspannung, Beruhigung, zur Klärung des Geistes bis hin zum eigentlichen Ziel der meditativen Übung, der Erleuchtung, führen – womit wir beim nächsten Begriff gelandet sind, unter dem ganz Unterschiedliches verstanden wird und der mit Worten letztlich nicht erklärt werden kann. „Das Wort ist nicht das Ding”, sagt der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti. Das ist ein besonders gutes Beispiel für die unterschiedliche Herangehensweise an die Philosophie, also die ‚Liebe zur Weisheit’, im Westen und im Osten. Im Abendland erfolgt diese Herangehensweise mit dem Denken, bei Krishnamurti und anderen spirituellen Lehrern des Orients mit dem ‚Nichtdenken’. Mit Worten kann immer nur Bekanntes, nie jedoch Unbekanntes beschrieben werden. Aber um das Unbekannte, die Erweiterung der Grenzen des Bekannten, die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten geht es in der Meditation. Sie alle zu erhellen ist Teil des Erleuchtungsprozesses, nicht jedoch die Erleuchtung selbst. Diese ist mehr, sie ist nicht die letzte Stufe der Meditation, sie ist jenseits davon. Die Übung der Meditation ist nicht die Meditation selbst. Erleuchtung, die auch als Befreiung (was ist das schon wieder?) beschrieben wird, gibt es ohne die Übung der Meditation und es gibt Menschen mit jahrzehntelanger Meditationspraxis, die dieser Befreiung kaum näher gekommen sind. Das hat mit der Art der Übung (richtig oder falsch), dem Ziel (Entspannung oder Befreiung) und dem Kontext (Religion als Glaube oder Religion als Erkenntnisweg) zu tun. Wieder hat sich Krishnamurti ganz besonders mit diesen Unterschieden beschäftigt: „Nicht der Mensch ist religiös, der … zur Kirche geht, ein bestimmtes Glaubensbekenntnis ablegt oder an Dogmen … gebunden ist. Der religiöse Mensch ist in Wirklichkeit ein wissenschaftlicher Geist – wissenschaftlich in dem Sinne, dass er fähig ist, die Tatsachen ohne Verzerrung zu beobachten, sich selbst zu sehen, wie er ist.”
In den östlichen spirituellen Praxisformen wird Glaube allein abgelehnt. Krishnamurti: „Lediglich zu glauben ist ein Zeichen von Unreife … Religionen und Dogmen bieten innere Sicherheit, verhindern jedoch, die Wahrheit zu finden … Gott ist eine fröhliche Ausflucht – so wie das Trinken … Sich Christ, Hindu, Buddhist zu nennen, hat für einen wahrhaft religiösen Menschen keinen Wert.” Solche Klarstellungen halte ich für wichtig. Ich sehe darin keine Abwertung der Religionen, sondern nur eine Abwertung des falschen Umgangs mit ihnen. Meditation kann als religiöse Praxis gesehen werden, wenn der religiöse Mensch nicht der ist, der glaubt, sondern der sucht oder gefunden hat. Meditation führt, richtig geübt, zur Wandlung der Person. Der Mensch, der den Weg der Befreiung beginnt, und jener, der die Früchte dieses Weges erntet, ist ein anderer. Es hat in ihm eine geistige Revolution stattgefunden, ein krisenhafter spiritueller Prozess oder eine allmähliche, möglicherweise sogar sanfte und problemlose Wandlung. Persönlich denke ich, dass tiefgreifende Wandlung ohne Krise kaum gelingt. Wäre sie einfach, wären alle schon erleuchtet. Krise scheint nötig. Sie findet sich in den großen Wandlungsgeschichten berühmter Menschen, ganz gleich, ob sie nun Buddha Shakyamuni, Jesus Christus oder Mohammad ibn Abd Manaf al-Quraschi heißen. Die Schwierigkeiten mit der Stille in der Meditation kann man leicht einsehen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass sich das menschliche Gehirn seit Jahrtausenden angewöhnt hat zu denken. Wir denken ununterbrochen.
Das ist die große Stärke des Menschen – und vielleicht auch seine Schwäche. Wer kennt nicht das gelegentlich qualvolle Nichtaufhören der Gedankenbewegungen auf der einen Seite und die Schönheit eines stillen Geistes auf der anderen. Das Ziel der Meditation positiv zu beschreiben ist nicht einfach. Leichter ist zu beschreiben, was sie nicht ist, und wieder drückt Krishnamurti das sehr trefflich aus: „Kontemplation ist keine Meditation … Meditation besteht nicht in der Wiederholung irgendwelcher Worte oder in dem, was die Hindus Mantras oder Sie Gebet nennen. Gebete und Mantras schläfern den Geist ein … Das ist nur eine Selbstbetäubung mit Worten. Sie können sich auch dadurch betäuben, dass Sie bestimmte Chemikalien einnehmen, sich betrinken oder irgendetwas Ähnliches tun. Aber das hat nichts mit Meditation zu tun.” Der gedankenfreie Zustand wird in der buddhistischen Meditation in der 4. Versenkungsstufe erreicht und ist wie der Begriff ‚Gewahrsamkeit’, also Achtsamkeit auf die eigenen inneren Vorgänge ohne jegliche Konzentration, und die Begriffe ‚Erleuchtung’ und ‚Befreiung’ kaum beschreibbar – sie können nur erfahren werden. Eine positive Beschreibung der Meditation erreicht man daher nicht, indem man die Zustände derselben beschreibt, sondern die Zielsetzung und Auswirkungen. Wieder gehört Krishnamurti zu jenen, die das letztendliche Ziel besonders klar und direkt ausdrücken: „Meditation ist der Zustand der Bewusstheit, der uns jeden Gedanken und jedes Gefühl bewusst erleben lässt … Das unentbehrliche Fundament der Meditation ist Selbsterkenntnis … Ohne sich selbst zu kennen, führt Meditation, jede Kontemplation, jedes Gebet, … , unvermeidlich zu Illusionen verschiedenster Art, … zu Selbsthypnose … Meditation ist das Gewahrwerden eines jeden Gedankens, jeden Gefühls, jeglichen Tuns, und diese Bewusstheit kann nur entstehen, wenn Sie nicht mehr verdammen, urteilen oder vergleichen.”
Das schließt nicht aus, dass Kontemplation, Mantras und Gebete Teile verschiedener Mediationsmethoden sein können, aber das letzte Ziel ist ein unschuldiger, stiller Geist. ‚Unschuldig’ nicht im moralischen Sinne, sondern ‚unschuldig’, indem alle Dinge nicht mit der Last, dem Wissen, den Urteilen und Vorurteilen der Vergangenheit, sondern ohne all diese, also ohne Wissen, ohne Urteile, frisch und neu wie von einem Kind betrachtet werden. Der Unterschied zwischen dem Weisen und dem Kind besteht allerdings darin, dass Kinder noch gar kein Wissen, kein Ego, kein Bewusstsein und keine Urteile aufgebaut haben, der Weise jedoch schon. Seine Weisheit zeigt sich darin, dass er all diese Urteile und Vorurteile fallen lassen kann und ohne sie an jede neue Situation herangeht – also wie ein Kind, aber eben doch nicht wie ein Kind, sondern wie ein Weiser. Es soll hier aber weniger von der Methode der Meditation, dem nicht bewertenden Betrachten von dem, was ist, gesprochen werden, sondern von deren Zielen. Buddha beschreibt sie als die vier ‚Göttlichen Verweilungen’ und auch sie haben mit dem christlich-jüdisch-muslimischen Gottesbegriff nichts zu tun. Es sind dies jene Gefühlszustände, in denen negative Emotionen wie Hass, Gier, Eifersucht, Besitzstreben, Ehrgeiz und all die vielen anderen dauerhaft abwesend sind und in denen die Tatsachen des Lebens klar erkannt werden. Der skeptische Zweifel, der uns ständig begleitet, ist abwesend, das ‚Ich’ ist als Illusion erkannt, den Dingen werden keine Bedeutungen und keine Eigenschaften per se zugeschrieben. Menschen, die diesen emotionalen Zustand erreicht haben, sind mitfühlend, wenn es anderen schlecht geht, mitfreuend, wenn es anderen gut geht, gleichmütig und liebevoll. Da diese Gefühlszustände von knapp daneben liegenden, den sogenannten ‚nahen Feinden’, gar nicht so leicht unterschieden werden können, könnte man annehmen, man sei schon erleuchtet. Um klar zu sehen, braucht man sich vor dem Einschlafen nur zu fragen: „Habe ich mich heute geärgert, war ich missgünstig, ablehnend oder urteilend?” – um nur einige negative Emotionen zu nennen.
Dann ist es noch nicht so weit: Die Erleuchtung muss warten. Der nahe Feind des Gleichmutes ist die Gleichgültigkeit, der nahe Feind des Mitgefühles ist das Mitleid, bei der Mitfreude ist es die egoistische Fröhlichkeit und von der selbstlosen Liebe ist der nahe Feind die besitzergreifende Liebe. Sieht man Meditation als vollbewussten, klaren Zustand, hat sie nichts mit Religion im herkömmlichen Sinne zu tun, wenn unter Religion ein bestimmter ‚Glaube’ verstanden wird. Auch hat sie nichts mit so abstrakten und esoterischen Begriffen wie dem ‚kosmischen Bewusstsein’ und ähnlichem Unsinn zu schaffen. Wann und wie ist man erleuchtet? Wie man erkennen kann, dass man es nicht ist, wurde schon beschrieben. Das Erkennen des erleuchteten Zustandes ist schwieriger. Man sagt, nur ein Erleuchteter könne einen anderen erkennen. Das macht Sinn. Nur ein Wissender kann den Wissenden erkennen, der Unwissende nicht. Aber es ist wenig bedeutungsvoll, das erkennen zu wollen. Wer seinen Geist erleuchtet hat, ist es, und wer dies nicht getan hat, ist es nicht. Jeder kann sich erleuchten, hat Buddha gelehrt. Für denjenigen, der nicht erleuchtet ist, ist der Zustand unbekannt. Die wenigsten Menschen streben nach Erleuchtung, doch das ist schade. Eigentlich sollten alle es tun, denn Erleuchtung wird als leidfreier Zustand beschrieben, wenngleich dieser Zustand selbst – das Nirvana – ebenfalls kaum beschreibbar ist. Der Weg dorthin ist paradox. Das Ziel ist mit dem Wollen nicht erreichbar, aber ohne dorthin zu wollen, auch nicht. Und ein letzter Satz von Krishnamurti: „Meditation ist wirklich etwas Ungewöhnliches; es ist etwas, das Sie jeden Tag tun müssen. Aber Meditation ist nicht vom Leben getrennt.”
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