Achtsamkeit ist kein Wunder

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27. Februar 2019
Meditation & Achtsamkeit

Für Laien scheint es wie ein Wunder: Das Auto springt nicht an, ein Mechaniker dreht an einer Schraube und schon läuft es wieder. Für den Fachmann ist das kein Wunder, sondern das Resultat seiner erlernten Tätigkeit. Der Motor ist mein Geist, der Mechaniker bin ich, die Schraube sind meine Gedanken und Emotionen. Das gezielte Hineingreifen in den Motor ist die Achtsamkeit.

Der Begriff Achtsamkeit erlebt gegenwärtig einen ähnlichen Boom wie das Wort Meditation. Und doch weiß kaum jemand, was die beiden Begriffe wirklich bedeuten. Besonders die Achtsamkeit lässt sich schwer fassen. Wenn sie wie beim weltbekannten vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh als Wunder bezeichnet wird, klingt das fast mystisch. Doch das Gegenteil ist der Fall: Achtsamkeit muss erlernt werden, dann ist sie verständlich und kann angewendet werden. Franz R., ein kleiner, dicker Mann, besucht ein Seminar für ‚Meditation und Stressbewältigung‘. Er erzählt über seine Firma. Sein Chef legt großen Wert auf präzise, pünktliche Arbeit, obwohl er selbst ständig zu spät kommt und alles durcheinanderbringt. Dadurch gerät Franz unter Druck, seriöse Arbeit ist kaum möglich. Der Kursleiter fragt: „Wieso macht dir das Stress?“ Franz ist irritiert, er findet die Frage einfältig: „Das ist doch klar. Der ganze Arbeitsablauf kommt durcheinander, das ärgert mich!“ „Aber du musst dich nicht ärgern“, sagt der Leiter. „Doch, muss ich, der Alte regt mich schrecklich auf!“ „Nein, er ärgert dich nicht. Du ärgerst dich. Ganz genau geht das so: Dein Chef erzeugt durch sein Verhalten ein unangenehmes Gefühl in dir, das du nicht bemerkst, weil du nicht auf deine Empfindungen achtest. Ärger steigt in dir auf und erst wenn dieser sehr stark ist, fällt dir überhaupt auf, wie erregt du bist. Es ist nicht dein Vorgesetzter, der dich stört, es ist das Gefühl, das er in dir erzeugt, das du zwar nicht bemerkst und das doch die Ablehnung in dir auslöst.“ Franz will das nicht akzeptieren. Er war noch nie achtsam auf seine Empfindungen, weder im Körper noch im Geist. Er lebt bildhaft gesprochen ständig ganz knapp neben sich, er spürt sich nicht.

Situationen, wie von Franz beschrieben, kennen wir alle. Irgendetwas stört uns: Jemand ist unfreundlich, eine schmutzige Toilette im Zug, der Arzt, der einen anderen Patienten vornimmt, der übel riechende Sitznachbar in der U-Bahn … Wir reagieren mit Ärger, Zorn, Ablehnung, Eingeschüchtertheit, Unruhe. In all diesen Fällen steigt Ärger in uns auf und wir identifizieren uns mit ihm. Wir reagieren auf diese negative Emotion mit Schuldzuweisungen. Immer rutschen wir in gleichen Situationen in die immer wieder gleichen Reaktionen: Ich will das nicht haben! Die Ursache meines Problems glaube ich sofort und eindeutig außen zu erkennen, im Arzt, im Dreck, im üblen Gestank. Aber dort ist sie nicht zu finden. Wir nehmen äußere Umstände zum Anlass, um uns zu ärgern, zornig zu sein, abzulehnen, uns unwohl und schlecht zu fühlen. In Wahrheit sind wir selbst unser größtes Problem! Wenn es uns gelingt, durch die Übung der Achtsamkeit in diesen Augenblicken innezuhalten, löst sich die Identifikation mit dem Ärger und der Unruhe oft schlagartig. Vor allem, wenn der Anlass gering ist. Bei großem Ärger und Zorn ist es nicht so einfach. Starke Emotionen wie Panikattacken, Wutanfälle sind mächtig wie eine alte Eiche. Die lässt sich auch nicht einfach ausreißen. Wollen wir durch Achtsamkeit lernen, eigenen Ärger, eigene Unruhe und Ängste aktiv zu verändern, sie aktiv zu unterbrechen und zu steuern, müssen wir sie üben. Mit ganz einfachen Übungen können gezielte Momente der Achtsamkeit hergestellt werden. Je mehr man sie trainiert, desto einfacher und selbstverständlicher werden sie. Was zu Beginn unmöglich schien, wird mit der Zeit ganz selbstverständlich und einfach.
Der amerikanische Zen-Meister und Buchautor Edward Espe Brown (‚Das Lächeln der Radieschen‘) lehrt in seinen Seminaren, wie man beim Kochen die Achtsamkeit üben kann. Als er mit dem Kochen anfing, fragte er seinen Lehrer Suzuki Roshi um Rat. Der sagte: „Wenn du den Reis wäschst, dann wasch‘ den Reis. Wenn du Karotten schneidest, schneid‘ Karotten. Und wenn du die Suppe umrührst, rühr‘ die Suppe um.“ Klingt einfach, denken Sie jetzt, aber probieren Sie es doch einmal aus und beobachten Sie die Länge des Zeitraumes, in der es Ihnen gelingt, mit den Gedanken wirklich ausschließlich beim Schneiden der Karotten zu bleiben – ohne abzuschweifen. Natürlich muss sich nicht jeder auf diese Art und Weise üben. Wenn Sie rundum glücklich und gesund sind, zufrieden mit Ihrem Leben und eins mit ‚Gott und der Welt‘, werden Sie vermutlich wenig an Ihrem Leben ändern wollen. Ab wann kann es für Sie sinnvoll sein, sich mit dem Thema Achtsamkeit verstärkt zu beschäftigen? Sie können das leicht prüfen: Ärgern Sie sich oft und sind oft unzufrieden? Gibt es eine Diskrepanz zwischen dem, wie Sie sein wollen, und dem, wie Sie dann wirklich handeln? Sind Sie der Meinung, die anderen sind schuld daran, dass es Ihnen nicht gut geht, dass Sie sich ärgern müssen – dann kann es höchste Zeit sein, sich um sich selber zu kümmern, sich mit Ihren Nöten, Ängsten und Zweifeln auseinanderzusetzen. Wenn Sie dabei erfolgreich sein wollen, können Sie lernen, achtsam zu sein, auf Ihre Gefühle zu achten, um festzustellen, wo die Unzufriedenheit herkommt, wann der Strudel der negativen Gedanken beginnt und an welchem Punkt sich diese negativen Gedanken in Trauer, Ärger, Wut oder Ängstlichkeit wandeln, ab wann die Magenschmerzen beginnen, wo der Heißhunger einsetzt und was es sonst noch an unangenehmen Auswüchsen unbewusster Reaktionsweisen gibt.

Achtsamkeit ist kein Wunder, sondern harte Arbeit, die ganz einfach wird.

Jahre sind vergangen und Franz hat in der Zwischenzeit viele Meditations- und Achtsamkeitstrainings besucht. Die Situation in der Firma regt ihn nun nicht mehr auf. Es ist für ihn ein großer Durchbruch, als er das erste Mal bemerkt, dass sein Stress durch ein körperliches Unbehagen ausgelöst wird. Anfänglich muss er die Achtsamkeit immer willentlich einschalten, es braucht jedes Mal einen inneren Ruck, ein Sicherinnern. Doch allmählich werden seine Wahrnehmungen immer genauer. Je länger er übt, umso eher sind ihm seine ihn ständig begleitenden Gedanken, Absichten und Gefühle bewusst. Jede große Eiche ist am Beginn eine ganz kleine Pflanze, die jedes Kind ausreißen kann. Das Gleiche gilt für die Emotionen. Franz erkennt sie nun schon im Entstehen, also an einem Punkt, an dem er sie noch ganz leicht fallen lassen kann. Man kann Ärger, der gerade im Entstehen ist, unterbrechen – nur merken muss man ihn. Trotzdem ist Franz auch weiterhin mit unangenehmen Lebenssituationen konfrontiert, aber er kann sie akzeptieren und als Teil seines Lebens erkennen.

Ohne ständige Achtsamkeit bemerken wir unsere Emotionen erst, wenn sie mächtig, ja übermächtig sind. Nur wenn einem alle Gefühle und Gedanken ständig bewusst sind, kann man sie steuern und kontrollieren. Das ist dann keine unterdrückende und bremsende Kontrolle und man verdrängt auch nichts. Man kann diese Fähigkeit eher mit jener tänzerischen Leichtigkeit einer exzellenten Köchin vergleichen, die ihre Speisen selbstverständlich ohne irgendeine Anstrengung würzt. Und gerade deshalb ist keine einzige Zutat zu wenig oder zu viel, die Mahlzeit schmeckt ganz köstlich. Wenn Achtsamkeit so weit gediehen ist, hören wir auf, auf Eindrücke von außen passiv zu reagieren, sondern wir handeln aktiv. Bis dahin war es, nicht immer, aber oft so, dass wir etwas denken, ohne es zu bemerken, dass wir uns ärgern, ohne eingreifen zu können. Jetzt kann man lästige Gedankenketten unterbrechen und negative Emotionen fallen lassen. Dadurch entsteht Wahlmöglichkeit. Ich bin gelassen und gleichmütig. Ich bin frei. Das kann man als das eigentliche Wunder der Achtsamkeit bezeichnen. Im Nachhinein ist allerdings klar, dass sie gar kein Wunder ist, sondern das Resultat harter Arbeit. Nach Jahren der Übung wird sie, so wie Kochen, Tanzen und Auto fahren, ganz leicht und völlig anstrengungslos.

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